Einstellungen von Ermittlungen nach sexueller Gewalt an Frauen kein Einzelfall

Gemeinsame Pressemitteilung von bff: Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, BODYS Bochumer Zentrum für Disability Studies und Weibernetz e.V.
Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.

Frau mit Behinderungen zieht vor den Landesverfassungsgerichtshof Berlin. Frauen- und Behindertenrechtsorganisationen begleiten sie dabei.

Berlin, 26.09.2022. Die 26-jährige Berlinerin Sonja M. (Der Name wurde geändert, weil die Beschwerdeführerin anonym bleiben möchte. ) reicht heute – vertreten durch Professorin Dr. Theresia Degener und die Rechtsanwält*innen Ronska Grimm und Lea Beckmann – Verfassungsbeschwerde beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin ein. Sie hat 2020 Anzeige erstattet und ausgesagt, dass sie von ihrem Vorgesetzten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen sexuell belästigt wurde. Sie wehrt sich dagegen, dass die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Beschuldigten eingestellt hat, weil sie angeblich nicht fähig sei, eine Aussage zu machen. Ihre Rechtsanwält*innen kritisieren gravierende fachliche Mängel in der Begutachtung und sehen in der fehlenden Würdigung der Aussage ihrer Mandantin und ihrer Behandlung im Ermittlungsverfahren eine strukturelle Diskriminierung gegen Frauen mit Behinderungen.

„Mein Chef hat mich immer wieder angefasst und geküsst, obwohl ich gesagt habe, dass ich das nicht will. Das war schrecklich und mir geht es immer noch manchmal schlecht deshalb“, erklärt Frau M. „Es ist einfach nicht fair, dass das für ihn keine Folgen hat.“ Frau M. gilt als leicht bis mittelgradig kognitiv beeinträchtigt. Im Verlauf des gesamten Ermittlungsverfahrens gab es Probleme, ihren behinderungsspezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Nachdem sie die sexuellen Übergriffe ausführlich und genau schildern konnte, beauftragte die Staatsanwaltschaft ein psychologisches Gutachten. Die Gutachterin, die keine behindertenspezifische Fachkenntnis vorwies, kam zu dem Ergebnis, dass Frau M. „aussageunfähig“ sei, ihre Aussage ist daher rechtlich wertlos. Obwohl ihre Rechtsanwält*innen auf offenkundige Mängel im Gutachten hinwiesen, stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Beschuldigten ein.

„Die Staatsanwaltschaft hätte auf ein solches Gutachten keine Einstellung stützen dürfen. Es fehlt bei Polizei und Staatsanwaltschaft häufig an Bewusstsein und Fachwissen, um zu gewährleisten, dass verletzte behinderte Frauen denselben Zugang zum Recht erhalten“, dazu Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies und ehemaliges Mitglied des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. „Es steht zu befürchten, dass hier ein Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte, wie die UN-BRK und die Istanbul-Konvention vorliegt“. Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Gleichzeitig werden Ermittlungsverfahren überdurchschnittlich häufig eingestellt. Das liegt unter anderem daran, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Psycholog*innen fachliche Standards missachten und die Aussagen der betroffenen Frauen deshalb nicht angemessen gewürdigt werden.

„Dass unsere Mandantin nicht aussagefähig sein soll, ist bereits dadurch widerlegt, dass sie mehrfach konstant ausgesagt hat. Das Gutachten ist aber auch in diskriminierender Weise erstellt worden und die Aufgabenstellung ist ihr nicht in einer für sie verständlichen Sprache erklärt worden. Hinzu kommen strukturelle Probleme im Justizsystem, so gibt es zu wenig Ressourcen, um Vernehmungen zeitnah durchzuführen. Dieser Fall ist kein Einzelfall. Meiner Erfahrung nach steht bei Taten zum Nachteil von Menschen mit Behinderungen in der Regel bereits von vornherein fest, dass aufgrund der Ausgestaltung der Justiz der Täter nie belangt werden wird,“ dazu Rechtsanwält*in Ronska Grimm.

„Fehlende Aussagefähigkeit: Das heißt, unsere Mandantin wurde faktisch rechtlos gestellt. Um dieser Ungerechtigkeit und Diskriminierung entgegenzuwirken, haben wir uns entschieden, zum Landesverfassungsgerichtshof zu gehen. Wir sind überzeugt, dass dieser die grundsätzliche, menschenrechtliche Bedeutung erkennen und den Fall genau prüfen wird“, kommentiert Lea Beckmann Rechtsanwältin und Antidiskriminierungsexpertin.

Die Verfassungsbeschwerde wird begleitet durch den bff: Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, dem Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung Weibernetz e.V. sowie das Zentrum für Disability Studies (BODYS) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

Professorin Theresia Degener sowie die Rechtsanwält*innen Ronska Grimm und Lea Beckmann stehen für Presseanfragen zur Verfügung.

Weitere Informationen

Ansprechpartnerin: Jenny-Kerstin Bauer
Petersburger Straße 94
10247 Berlin
t: +49(0)30 32299500
f: +49(0)30 32299501
info@bv-bff.de
www.frauen-gegen-gewalt.de

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